Virtuelle Lesung mit Maxi Obexer
Foto (C): Nane Diel
Am Freitag, 15.5.20 nützte das Bibliotheksteam unserer Schule die MTeams-Plattform, um eine bereits geplante Autorenbegegnung, ursprünglich in der Aula angesiedelt, im virtuellen Raum zu veranstalten. Maxi Obexer trat mit einem Text, den sie „Metamorphosen“ nennt, in ihrer Wohnung in Südtirol sitzend vor das Publikum, bestehend aus den MaturantInnen und DeutschlehrerInnen unserer Schule.
Die Südtiroler Autorin mit Brixner Wurzeln erklärte den TeilnehmerInnen der Video-Lesung, dass das Covid-Virus ihre Rückkehr an ihren Wohnort Berlin im März verhindert habe. Beeindruckt von der plötzliche Verwandlung unserer Welt und Gesellschaft ließ sie sich zu einem Text inspirieren, der das persönliche Dasein im Hier und Jetzt der Autorin in der Coronakrise mit detailliert beschriebenen Bildern deutlich macht. Die Künstlerin liest dem wenig spürbaren Publikum im Netz ihren Prosatext – geschrieben aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin – vor. Die HörerInnen dürfen sich einlassen auf das Bild der Lesenden, die ihren Lebensmittelpunkt in Berlin gefunden hat und in Europa zu Hause ist, sie dürfen sich auf ihre Gedanken einlassen, auf die Frage „Was geschieht mit uns?“ und die Antworten darauf, die sie wie in einer Zeichnung entstehen lässt: Das erzählende Ich spricht von der Alm, auf die niemand mehr hinauf darf, von Drohnen, die sich frei bewegen dürfen und die beim Ich Eifersucht aufkommen lassen; eine Eifersucht, die wohl eine „angehaltene Sehnsucht“ ist, ein Gefühl, das jene Menschen verspüren, die nun mit ihrem eigenen Spiegelbild vorliebnehmen müssen, wenn sie das Weinglas gemeinsam mit einem Gegenüber erheben wollten. Der Vergleich mit einem Kanarienvogel, dem ein Spiegel aufgehängt wird, damit er das Gefühl hat, einen Artgenossen bei sich zu haben, lässt den Zuhörer/die Zuhörerin an ein einsames Wesen im Käfig denken, seiner Freiheit beraubt, bemüht aber, das Bild eines Gegenübers über Handy, Computer, lebendig zu halten. Weitere interessante Bilder lässt Maxi Obexer in ihrer Lesung auf der Leinwand der Fantasie des Publikums entstehen: Der Jungbauer, der von der Ich-Erzählerin beobachtet wird, reagiert auf die Coronakrise mit Aktionismus, baut einen Zaun und eine Ich-Bar ganz für sich selbst, bringt Gülle aus und löst mit dem Gestank in der Beobachterin die Assoziation vom Geruch der Pest aus. Die Mutter, die zur Risikogruppe zählt steht wohl für mindestens einen älteren Menschen in der Familie oder im Bekanntenkreis, um den sich vermutlich jeder Sorgen macht und die Tante mit ihrem eigenwilligen Verhalten scheint dem zuhörenden Publikum den Spiegel vorzuhalten und blickt scheinbar schizophren oder ironisch auf den Lauf der Dinge, der ins Stocken geraten ist, der die Strafe in den Vordergrund drängt und die Strenge spüren lässt, die uns auseinanderdividiert.
Maxi Obexer freute sich im Anschluss an die Lesung auf Fragen aus dem Publikum, dabei betonte sie, wie wichtig das Publikum sei und es zu spüren sowie ihre Gedanken und Reaktionen. Aus dem jungen Publikum kam dann auch die Frage nach dem Schreiben, wie und wo gelange die Autorin zu Ideen. Es sei ein langer Weg hin zu einer Idee, so die Wahlberlinerin, Ideen und Werke würden neue Ideen und neue Werke erschließen. Ideen kämen auch durch aktuelle Situationen, wie der Text der Lesung zeige, dabei ginge es ihr darum, Momente zu erhalten, die sonst im Nachhinein nur durch Recherche erschlossen werden könnten. Es gehe der Autorin beim Schreiben auch immer um den persönlichen Zugang zu dem, was sie schreibe. Das gebe den Texten Glaubwürdigkeit und Verankerung, sie könne dadurch Tiefe und Schärfe erreichen, die eine Legitimierung schaffe. Ideen entwickle sie aber auch aufgrund von Aufträgen, die sie als Dramatikerin von Theaterbetrieben bekomme. Maxi Obexer könne überall schreiben, sie sei viel unterwegs, es ließe sich gut schreiben im Zug, aber auch in Berlin in ihrem Arbeitsraum mit einem Tagesablauf, der sehr regelmäßig sei. Die Autorin führte in diesem Zusammenhang Gedanken über die zeitgenössische Literatur der letzten 10-15 Jahre aus, diese Literatur habe viel mit dem persönlichen Zugang neben der Fiktionalisierung zu tun und mit dem Mut, sich selbst zu zeigen. Sie spüre gleichzeitig eine Verantwortung als Schriftstellerin, sie und andere Literaturschaffende lieferten ihren Teil zum gesellschaftlichen und zivilisatorischen Vorankommen.
Darauf angesprochen, wie Maxi Obexer Europa im Zuge der Pandemiebekämpfung sehe, meinte sie, dass sie viele Beobachtungen gemacht habe, die sie positiv beurteile: Man könne den Wert Europas in der aktuellen Situation besser erkennen, die Freizügigkeit, wenn man an die Reisefreiheit in Nicht-Corona-Zeiten denke. Die Menschen würden wieder neu und verstärkt reflektieren, was Europa ausmache, sie spüre eine Zusammenarbeit, die notwendig sei für das Weiterkommen, dies könne nur im Miteinander passieren, nicht im konkurrierenden Grenzen-Erfinden einzelner Nationalstaaten. Im Zusammenhang mit dem Wert Europa falle ihr der Philosoph Giorgio Agamben ein, der kritisch auf Europa blicke. Es hätten sich solidarische Formen gezeigt, da komme ihr Monika Hauser in den Sinn, die von selbstverständlichem solidarischen Handeln der Frauen als System-Erhalterinnen gesprochen habe.
Die Schriftstellerin blickte auch in die Zukunft, aus deren Perspektive wir noch rückblickend auf die Situation heute viel zu analysieren hätten, auch bezüglich des Gemeinschaftlichen. Sie meinte, als sie auf die Angst vor Radikalisierung angesprochen wurde, dass sie den klugen Köpfen vertraue, vor allem auch hier in Südtirol, sie habe in Schulen häufig festgestellt, dass es dort Menschen gebe, die eine gewissen Reife im Denken hätten, sie vertraue darauf, dass SüdtirolerInnen durch die handfesten Erfahrungen, die sie gemacht hätten, verstünden, was es bedeute, einem zentralistischen Staat angegliedert zu sein und deshalb verstehen könnten, wie wichtig es sei, die Europäische Union zu haben.
Die Autorin gab zum Abschluss einen Ausblick auf die Zukunft ihres Schaffens und machte dabei deutlich, dass sie viele Ideen habe, die um Frauenthemen und historische Themen mit Bezug auf Südtirol kreisten: Sie wolle Frauen in ihren Texten vorkommen lassen, die einen wichtigen Anteil an der Geschichte Südtirols gehabt hätten, deren Geschichte jedoch bis jetzt noch nicht geschrieben worden sei.
Die TeilnehmerInnen an der Lesung bedankten sich mit einem Applaus und wünschten sich, Maxi Obexer bald real wiedersehen zu können.
Wir bedanken uns beim Amt für Kultur für die Ermöglichung dieser Autorenbegegnung!
Text: Klaudia Niederlechner